EUROPÄISCHE STABILITÄTSUNION - GLOBALE GESTALTUNGSMACHT
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Rede von Bundesaußenminister Guido Westerwelle vor Studierenden der Universität Leiden in Den Haag

04.10.2011

-es gilt das gesprochene Wort-

Ich freue mich, in der ehrwürdigen Societeit de Witte zu Ihnen über die Zukunft unseres gemeinsamen europäischen Projekts zu sprechen. Dieses Haus kann auf eine beeindruckende Geschichte zurückblicken. Seit über zweihundert Jahren lädt es zu freundschaftlicher Begegnung über die Grenzen von Ländern, Parteien und Berufsständen hinaus ein. Das macht es zu einem besonderen Ort des Gesprächs über wichtige Fragen der Politik, der Wirtschaft und der Kultur. Von diesem aufgeklärten und weltoffenen Geist hier am Den Haager Plein sollten wir uns leiten lassen, wenn wir über Europa nachdenken.

Dieses Europa steht in der Schuldenkrise vor der schwersten Bewährungsprobe der letzten sechzig Jahre. Die Krise verändert unseren Blick auf Europa. Sie übt einen fast unüberwindbaren Zwang aus, durch die Brille von Volkswirten und Börsenmaklern auf das europäische Projekt zu schauen. Unaufhaltsam entwickeln wir alle uns zu Fachleuten für Länder-Ratings, Zins-Spreads und Haircuts.

 

Vor allem aber hat die Krise bei vielen in Europa große Sorgen geweckt. Diese Sorgen müssen wir ernst nehmen.

Trotzdem dürfen wir gerade jetzt nicht unseren Blick auf die Krise und ihre Zumutungen verengen. Ein solcher Tunnelblick würde unser grundlegendes gemeinsames Interessen an der Einigung Europas ausblenden. Für uns Deutsche bleibt Europa festes Fundament unserer Außenpolitik. Nur die europäische Einigung hat die deutsche Frage nach der friedlichen Einbindung des größten Landes in der Mitte unseres Kontinents überzeugend beantwortet. Die Einheit Deutschlands, deren 21. Jahrestag wir heute hier in Den Haag feiern werden, wäre ohne die Integration nicht Wirklichkeit geworden.

Das geeinte Europa leistet einen gewaltigen Beitrag zur Mehrung unseres Wohlstandes. Für Exportländer wie die Niederlande und Deutschland gilt das in besonderem Maße. Nicht zuletzt spüren wir in Den Haag genauso wie in Berlin immer deutlicher, dass uns ein gemeinsamer „European Way of Life“ verbindet, den wir in der globalisierten Welt nur gemeinsam behaupten können.

Umso wichtiger ist es, dass wir der Debatte über die Zukunft Europas die richtige Richtung geben. Die Gretchenfrage lautet: Brauchen wir mehr oder weniger Europa? In dieser Frage dürfen wir dürfen nicht den Eindruck entstehen lassen, die Wahrung nationaler Interessen stehe in einem Gegensatz zur Fortentwicklung der europäischen Einigung. Wer so argumentiert, liegt falsch. Renationalisierung ist ein gefährlicher Irrweg.

Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Antwort auf die Schuldenkrise und die Herausforderungen der Globalisierung liegt nicht in „weniger Europa“, sondern in „mehr Europa“. Das ist die Botschaft, die wir jetzt senden müssen. Wir müssen klar und deutlich sagen, wo wir stehen. Wir Deutsche wissen, dass unsere Nachbarn in Europa das gerade von uns erwarten.

Für die Bewältigung der Schuldenkrise heißt das vor allem, dass wir uns nicht auf kurzfristiges Krisenmanagement beschränken dürfen. Wir müssen eine Vision für eine dauerhafte Lösung entwickeln. Die Krise eröffnet uns die Chance nachzuholen, was in Maastricht noch nicht machbar war: die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion durch die Errichtung einer Europäischen Stabilitätsunion.

Erste Schritte auf diesem Weg haben wir gemacht. Dass der Deutsche Bundestag den Weg für einen gestärkten Rettungsfonds frei gemacht hat, ist ein wichtiges Zeichen an unsere europäischen Partner: Auf Deutschland ist Verlass. Ich bin zuversichtlich, dass auch das niederländische Parlament am 6. Oktober richtig entscheiden wird. In den nächsten Monaten müssen wir auf diese Grundlagen aufbauen. Wir müssen das Ruder unumkehrbar in Richtung Haushaltsdisziplin und Wettbewerbsfähigkeit in Europa herumwerfen.

Bei dieser gewaltigen Aufgabe betreten wir Neuland. Vermeintlich einfache Lösungen wie „Eurobonds“ sind nicht hilfreich, weil sie am Kern des Problems vorbeigehen. Stattdessen müssen wir uns in Europa über die Bedingungen verständigen, die eine dauerhafte Überwindung der Krise erfüllen muss

 

 
Vier Punkte sind wesentlich. Erstens müssen wir in der Euro-Zone unsere Wirtschafts- und Finanzpolitiken enger koordinieren und eine verbindliche Kultur der Haushaltsdisziplin ausprägen. In den Eurostaaten muss sich eine verbindliche Kultur der Haushaltsdisziplin ausprägen. Vieles ist hier unter dem Druck der Krise denkbar und möglich geworden, was noch vor einem Jahr als undenkbar galt. Fiskaldisziplin ist kein deutsches Hobby, sondern im gesamteuropäischen Interesse. Die Verankerung nationaler Schuldenbremsen in den Verfassungen der Euro-Staaten wird inzwischen in vielen Euro-Ländern vorangetrieben. Auch die vom Europäischen Parlament gerade gebilligte Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts ist wichtig. Das „Europäische Semester“, über das Europa stärkere Einsichtsrechte in die nationalen Haushalte bekommt, muss rasch zu mehr Verbindlichkeit führen. Bei alledem dürfen wir nicht den Fehler machen, Politik und Märkte als Gegner zu betrachten. Der ordnungs- wie europapolitisch richtige Weg ist es, wenn wir uns die disziplinierenden Kräfte der Märkte klug zunutze machen, um die Regierungen der Euro-Zone zu einer nachhaltigen Haushaltspolitik anzuhalten.

Zweitens, wir müssen Europa die Finanzverfassung geben, die es braucht. Dazu gehören die richtigen Anreize für große Anleger, um sie zu mehr Augenmaß und weniger schädlichen Übertreibungen zu veranlassen. Der Finanzmarkt ist noch nicht hinreichend eingehegt: Wir brauchen solide, mindestens auf europäischer Ebene angelegte Eigenkapitalregelungen für Finanzinstitute und eine starke Bankenaufsicht. Nur so können wir künftigen Finanzblasen und Schuldenkrisen vorbeugen. Auch der Aufbau einer unabhängigen europäischen Rating-Agentur muss weiter vorangetrieben werden.

Drittens, ohne Wachstum bleibt eine Stabilitätskultur auf Dauer unfruchtbar; deshalb brauchen wir einer Strategie für mehr Wettbewerbsfähigkeit in Europa. Zu einer solchen Strategie gehört, dass wir in den anstehenden EU-Haushaltsverhandlungen für die Jahre 2014-2020 die Mittel spürbar umsteuern: mehr Investitionen in Bildung, Forschung, Infrastruktur, weniger in die Subventionierung. Das werden alles andere als einfache Verhandlungen, aber wenn wir es mit der Wettbewerbsfähigkeit Europas ernst meinen, müssen wir diesen Weg konsequent beschreiten.

Viertens, um die Schuldenspirale zu durchbrechen und den Weg in eine echte Stabilitätsunion zu schaffen, reichen die bisher unternommenen Schritte nicht aus. Wir müssen den Stabilitätspakt weiter stärken in Richtung automatischer Sanktionen. Vor allem aber müssen wir dem Grundsatz, dass sich Solidarität und Solidität gegenseitig bedingen, echten Biss geben. Einsichtsrechte und Empfehlungen reichen nicht aus. Staaten, die in Zukunft die Solidarität des Rettungsschirms in Anspruch nehmen wollen, müssen in dieser Zeit der europäischen Ebene verbindliche Durchgriffsrechte in ihre Haushaltsentscheidungen einräumen.

Eine Änderung der europäischen Verträge wäre der klarste Weg, größere haushaltsrechtliche Verbindlichkeit zu erreichen und dabei die grundsätzliche Einbeziehung der EU-Institutionen zu gewährleisten. Wir müssen die Konstruktionsdefizite des Maastrichter Vertrages von 1991 überwinden. Das ist eine gewaltige Aufgabe. Sie jetzt anzupacken, ist aber nach unseren Erfahrungen der letzten zwei Jahre fundamental notwendig.

Sollte die Zeit für einen solchen Schritt trotz der Krise noch nicht für alle reif sein, dann müssten die Euro-Länder vorangehen, etwa im Rahmen eines völkerrechtlichen Vertrages. Dabei sollten wir immer das Ziel vor Augen haben, einen solchen Vertrag später in die EU-Verträge zu überführen, so wie es in der Vergangenheit auch beim Schengener Abkommens über die Reisefreiheit gelungen ist. Eines steht fest: Wir können nur dann erfolgreich vorangehen, wenn wir auch die Frage der demokratischen Legitimation überzeugend beantworten.

Das ist die Straßenkarte, der wir jetzt folgen sollten. Dieser Weg wird uns noch große Anstrengungen abverlangen. Trotzdem haben wir allen Grund, die Errichtung der Stabilitätsunion mit Zuversicht und Selbstvertrauen voran zu bringen. Wir alle haben dabei viel zu gewinnen. Das machen wir uns in dieser Zeit der Krise viel zu selten klar. Stärken wir den Euro als weltweite Reservewährung, eröffnet uns das gewaltige Vorteile im Wettbewerb.

Vor allem müssen wir jenseits der Zumutungen der Krise das große Bild sehen: Nur ein handlungsfähiges Europa auf festem wirtschaftlichem Fundament kann die Herausforderungen bewältigen, vor die uns die Globalisierung stellt. Allein ist kein europäischer Staat diesen Herausforderungen gewachsen. Wenn wir die Europäische Union nicht hätten, müssten wir sie deshalb heute erfinden als Antwort unseres Kontinents auf die Globalisierung.

Seit dem Ende des Kalten Krieges erleben wir eine gewaltige Verschiebung der Gewichte in unserer Welt. Der Anteil der Europäischen Union an der Weltbevölkerung geht zurück. 500 Millionen Europäer machen heute nur noch sieben Prozent einer beständig wachsenden Weltbevölkerung aus. 1989 erwirtschaftete Deutschland noch eineinhalb mal so viel wie China. Heute ist Chinas Bruttosozialprodukt doppelt so hoch wie das Deutschlands.

 
Wir erleben den Auftritt neuer Spieler auf der Weltbühne. In den boomenden Metropolen der aufstrebenden Gesellschaften kommen immer breitere Bevölkerungsschichten zu Wohlstand und erheben Anspruch auf Teilhabe und Mitsprache. Das gilt besonders für die BRICS-Staaten - Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika. Dieses Kürzel gehört längst nicht mehr zum Fachjargon der Investment-Bänker. Es ist zum Markenzeichen für aufstrebende Märkte und Mächte geworden. In den letzten zehn Jahren hat sich das niederländische und deutsche Handelsaufkommen mit diesen Ländern vervielfacht.

Diese Umwälzung geht einher mit der Entwicklung einer globalen Mittelklasse, deren Vorstellungen von wirtschaftlicher und politischer Teilhabe sich oft gar nicht so stark von unseren unterscheiden. Das erleben wir in diesen Monaten gerade in unserer Nachbarschaft, ob in Nordafrika, in der arabischen Welt oder in Weißrussland. Wir werden Zeugen einer Globalisierung der Werte.

Wir sehen, wie Millionen von Menschen aller Unterdrückung zum Trotz für Freiheit und faire Lebenschancen auf die Straßen gehen. Und wir spüren, dass ihre Forderungen gar nicht so verschieden von dem sind, wofür mutige Europäer, wie zum Beispiel 1989, immer wieder gekämpft haben. Diese Erfahrung muss unseren Blick auf die Möglichkeiten lenken, die in den Umbrüchen unserer Zeit stecken.

Die Entstehung neuer Kraftzentren müssen wir als Chance begreifen, gemeinsam den Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen. Das gilt für Klimaschutz und Energiepolitik genauso wie für den Umgang mit Migration und die Bekämpfung des Terrorismus.

Deshalb müssen wir Europäer die aufstrebenden neuen Mächte in stärkerem Maß als bisher als strategische Partner begreifen. Wir müssen sie in die Verantwortung nehmen, globale Ordnungspolitik auch als ihr eigenes Anliegen zu begreifen.

Eine solche weltweite Ordnungspolitik brauchen wir dringender denn je. Dabei ist Pionierarbeit zu leisten. Bewährte Musterlösungen gibt es nicht. Sicher ist nur, dass die Vereinten Nationen mit ihrer weltumspannenden Legitimität eine Schlüsselrolle spielen müssen. Was Global Governance darüber hinaus heißen soll, müssen wir Schritt für Schritt gemeinsam ausbuchstabieren.

Wo wir neue strategische Partnerschaften begründen, ist das keine Abkehr von alten Freunden. Das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen neue Partnerschaften fest in einen europäischen Rahmen einbetten.

Das wird uns nur gelingen, wenn wir die strategischen Partnerschaften der Europäischen Union mit handfesten Inhalten füllen. Zusammen mit der Hohen Vertreterin für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Catherine Ashton müssen wir deshalb einen gemeinsamen Plan ausarbeiten, wie Europa neuen Gestaltungsmächten künftig gegenübertreten soll. Wir müssen uns über gemeinsame Ziele und Strategien verständigen, die wir dabei verfolgen. Nur auf diesem Weg werden wir Europa in die Lage versetzen können, weltpolitisch mit einer Stimme zu sprechen.

Als Stabilitätsunion kann die Europäische Union selbst globale Gestaltungsmacht sein. Das ist Vision, an der wir uns orientieren müssen. An ihr müssen wir in der Bewährungsprobe dieser Monate festhalten. Gerade jetzt müssen wir das politische Projekt Europa voranbringen und die Debatte über eine neue Verfasstheit Europas aufnehmen.

Die Niederlande und Deutschland haben dabei eine wichtige Rolle zu spielen. Wir sind Europäer der ersten Stunde. Gemeinsam haben wir die Römischen Verträge unterzeichnet. Wir haben zusammen die Schengen-Regeln zur Reisefreiheit aus der Taufe gehoben. Wir haben in Maastricht Seite an Seite die Währungsunion begründet.

An diese große Tradition müssen wir jetzt anknüpfen und das nächste Kapitel der europäischen Einigung schreiben. Mit unseren Freunden in Frankreich, Polen und den anderen Staaten Europas müssen eine europäische Stabilitätsunion als globale Gestaltungsmacht errichten.

Das ist mehr als ein Akt alter Verbundenheit mit einem Europa, das uns sechzig Jahre des Friedens und des Wohlstands gebracht hat. Es geschieht aus der nüchternen Einsicht, dass wir den großen Umbrüchen unserer Zeit nur in einem geeinten und gefestigten Europa gewachsen sein werden. Dafür müssen wir arbeiten.

Dabei sollten wir uns von dem aufgeklärten und weltoffenen Geist leiten lassen, den die Societeit de Witte verkörpert.